Das ist verständlich und nachvollziehbar. Denn selbst als Autor solcher Berichte kommt man nicht umhin, am Sinn des Ganzen zu zweifeln. Allerdings gibt es kaum ein vergleichbares Beispiel von bis ins kleinste Detail allen Verantwortlichen bekannter Insolvenzverschleppung.

Unbezahlter Urlaub oder unbezahlte Kurzarbeit

Die Piräus Bank bietet ihren Angestellten an, zu wählen, ob sie ohne Lohnausgleich in Kurzarbeit gehen wollen, oder ob sie zwölf unbezahlte Tage Zwangsurlaub akzeptieren. Dieser Vorstoß ist kein Einzelfall - die Banken versuchen alles, um ihre Personalkosten zu senken. Dazu gehören Arbeitsverträge, die nur in einem in Krisenzeiten befindlichen Land akzeptiert werden, die Weigerung zur Bezahlung von Überstunden - und Szenen, wie aus dem Plot eines zweitklassigen Kinofilms.

So kommt es wiederholt vor, dass Bankangestellte durch den Notausgang flüchten, wenn die staatliche Arbeitsaufsicht zur Kontrolle erscheint. Die Angestellten möchten nicht am Arbeitsplatz erwischt werden, weil sie ansonsten selbst Strafe für die hinsichtlich der Zeit nicht deklarierte und somit auch hinsichtlich der Sozialabgaben nicht versicherte Arbeit zahlen müssten. Überstunden, oder Einsatz an eigentlich geplanten Ruhetagen müssen in Griechenland im Voraus elektronisch bei einem Ergani genannten System angemeldet werden. Geschieht das nicht, arbeitet der Angestellte in dieser Zeit illegal. Die Banken vermeiden die Anmeldung, um neben den Lohnzahlungen auch die Sozialabgaben zu sparen.

Wenn solche Zustände bei Banken, den Unternehmen, die während der Krise mehrfach gestützt wurden und die per Gesetz gegen einen Obolus für nahezu sämtliche Zahlungen der Bürger notwendig sind, geschieht, wie sieht es dann erst in der freien Wirtschaft aus?

Die Pfändungen der Bürger erreichen neue Rekordstände

Im Jahr 2000 betrug der Anteil der direkten, von natürlichen Personen gezahlten Steuern am Bruttoinlandsprodukt 4,1 Prozent, etwa den gleichen Betrag, vier Prozent, zahlten die Unternehmen. Bis zum Crash, der faktischen Staatspleite in den Jahren 2009 und 2010, sank der Beitrag der Unternehmen auf 2,5 Prozent, während die Bürger, die 2009 knapp 4,4 Prozent gezahlt hatten schließlich 2010 vier Prozent des BIPs beitrugen.

Nach mehr als acht Jahren Reformen und Sparprogrammen stand die Quote für das Wirtschaftsjahr 2017 bei 6,2 Prozent für die Bürger und 1,9 Prozent für die Unternehmen. Ein Wirtschaftswunder hat sich trotzdem noch nicht eingestellt.

Die Bürger können die immer höhere Steuer- und Abgabenlast jedoch nicht mehr tragen. Laut dem Bürgerobmann Griechenlands gab es im Zeitraum von Sommer 2015 bis Mai 2018 mit steigender Tendenz knapp 4,85 Millionen Pfändungen von Bankkonten durch die griechischen Finanzbehörden. Statistisch gesehen konnte damit fast jeder zweite der knapp elf Millionen Einwohner des Landes seine Abgaben nicht zahlen.

Selbst wenn das oft verbreitete Klischee der hinsichtlich ihrer Steuerzahlungsmoral nachlässigen Griechen heran gezogen wird, zeigt sich allein an der Masse der säumigen Zahler in der offiziellen Statistik, dass die Vermutung einer zu hohen, und somit nicht mehr zu bewältigenden Steuer- und Abgabenlast der Griechen eine logischere Erklärung für das Phänomen liefert. Schließlich werden viele direkte Steuern in Hellas nicht aufgrund von realen Einkommen, sondern mit Hilfe von fiktiven, auf Schätzungen beruhenden Einkommen erhoben.

Fiktive Einkommen als Besteuerungsgrundlage

Jeder in Griechenland lebende Steuerpflichtige hat nach Ansicht des Staats ein fiktives Einkommen von 3.000,- Euro als Einzelperson – 5.000,- Euro gelten für Verheiratete. Das fiktive Mindesteinkommen wird fiskalisch erfasst, wenn der Betreffende mindestens einen Euro verdient hat - oder wenn er aufgrund weiterer fiskalischer Schätzungen ein Einkommen haben muss.

Wer ein Auto oder ein sonstiges Fahrzeug bis 1,2 Kubik hat, verdient in den Augen des griechischen Staats mindestens 4.000,- Euro zusätzlich zum fiktiven Mindesteinkommen. Ein arbeitsloser Autobesitzer muss demnach - unabhängig von tatsächlichem Einkommen - für 7.000,- Euro fiktives Jahreseinkommen gerade stehen. Für Autos mit höherer Kubikzahl erhöht sich – zunächst unabhängig vom Alter des Fahrzeugs – das fiktive Einkommen. Für bis zu zwei Liter Hubraum sind dann je 100 Kubik 600,- Euro fällig. Was darüber hinausgeht, wird mit 900,- Euro pro 100 Kubik taxiert.

Auf die Gesamtsumme wird für Autos älter als fünf und jünger als zehn Jahre ein Rabatt von 30 Prozent gewährt. Bei noch älteren Fahrzeugen beträgt der Rabatt 50 Prozent. Ausgenommen von dieser Besteuerung sind nur Schwerbehinderte mit einem Behinderungsgrad von mehr als 67 Prozent.

Zum fiktiven Einkommen addiert werden Ausbildungskosten und Kosten für häusliche Betreuung. Darüber hinaus geht das Finanzamt auch beim Wohnen im Eigentum, beziehungsweise bei kostenlos (zum Beispiel von einem Familienangehörigen) überlassenem Wohnraum von Einkommen aus. So bedeutet das Wohnen in einer selbst genutzten Eigentumswohnung bis zu 80 qm Wohnfläche, dass der Steuerpflichtige 40 Euro pro Quadratmeter fiktives Einkommen zu versteuern hat.

Die fiktiven Einkommen steigen für Wohnungen von 81 bis 120 Quadratmeter auf 65 Euro pro Quadratmeter, bei 121 – 200 Quadratmetern werden 110 Euro berechnet, für 201 – 300 Quadratmeter sind 200 Euro pro Quadratmeter fällig und schließlich werden Wohnungen mit 301 Quadratmetern mit 400 Euro pro Quadratmeter taxiert.

Vermögensregister soll alles umfassen

Jeglicher vom Staat als Luxus angesehener Besitz wird als Basis für Schätzeinkommen herangezogen. Die Finanzbehörden arbeiten an einem für alle Steuerpflichtigen obligatorischen Vermögensregister, in dem auch Gemälde und Familienschmuck erfasst werden.

Überleben mit fiktivem Einkommen?

Kaum etwas demonstriert die wirtschaftliche Aussichtslosigkeit der Griechen besser. Griechenland hat knapp 8.5 Millionen Steuerpflichtige. 3.933.628 davon sind als Steuerschuldner mit offenen, nicht korrekt bedienten Schulden registriert. Knapp 600.000 Schuldner, die Schulden unter 500 Euro über einen Zeitraum von drei Monaten nicht bedient haben, werden in den nächsten Wochen mit Pfändungen konfrontiert. Eigentlich beginnen die Pfändungen erst ab Beträgen von 500 Euro aufwärts - aber der Staat braucht dringend Geld und ändert daher laufend seine Regeln für Pfändungen.

Im Einzelnen wurden von der unabhängigen Finanzbehörde 2015 ungefähr 650.000 Pfändungen vorgenommen, 2016 verdoppelte sich die Zahl, 2017 gab es mehr als 1,7 Millionen Pfändungen und von Januar bis Mai 2018 wurden fast 1,2 Millionen Pfändungen durchgeführt. Die Pfändungen betrafen Steuerschulden und offene Rechnungen der staatlichen Sozialversicherer.

Vor Pfändungen sind weder die kargen Beihilfen für Arbeitslose noch die Sozialhilfe für behinderte Kinder sicher. Im Bericht des Bürgerobmanns wird explizit der Fall einer arbeitslosen Mutter erwähnt, deren Arbeitslosenhilfe samt der Geburtshilfeprämie gepfändet wurde, so dass Mutter und Neugeborenes danach vollkommen mittellos dastanden.

Eigentlich sind beide sozialen Prämien per Gesetz von der Pfändung ausgeschlossen. In der Praxis können die Banken jedoch die Quelle des auf den Konten der Kunden befindlichen Betrags nicht verifizieren, so dass eine Rücknahme einer erfolgten Pfändung nur mit erheblichem Verwaltungsaufwand möglich ist.

Zu Unrecht gepfändet? Wie kann das Problem gelöst werden?

Zudem leiden die betroffenen Bürger unter der überbordenden Bürokratie. Am 30. Oktober versuchte eine über sechzigjährige Frau in einer Bankfiliale im Küstenort Nea Artaki auf Euböa das Unmögliche. Das Erscheinungsbild der sichtlich gebeugt gehenden Dame lässt ein weitaus höheres Alter vermuten. Sie arbeitet zur Aufbesserung einer kargen Witwenrente ihres verstorbenen Gatten Teilzeit bei einem privaten Unternehmen.

Das Gesamteinkommen der Dame liegt unterhalb der Pfändungsgrenze nahe dem Existenzminimum. Sie kann trotz Arbeit und Rente kaum ihre Strom- und Wasserrechnungen bezahlen, so dass auch hier das Abstellen der Versorgung droht. Das Problem der Frau ist, dass der karge Monatslohn, der per Gesetz nicht mehr bar ausgezahlt werden darf, jeden Monat zunächst gepfändet wird.

Jeder griechische Steuerzahler hat das Recht, ein Bankkonto als unpfändbar eintragen zu lassen. Das bedeutet, dass von diesem Konto nur der über das Existenzminimum hinaus gehende Betrag gepfändet werden darf. Allerdings kommt es oft vor, dass bei solchen Konten zunächst der gesamte auf dem Konto befindliche Betrag von den Banken eingefroren wird. Zudem ist es für den Steuerschuldner kritisch, wenn ein Arbeitgeber – wie es in Griechenland oft vorkommt – den Lohn nur mit Verspätung zahlt und dann in einem Monat zwei oder mehr Gehälter gleichzeitig auf dem Konto landen.

Das Problem der Dame war allerdings noch komplizierter. Der staatliche Sozialversicherungsträger EFKA (IKA) zahlt die Witwenrente auf ein Konto bei der Alpha Bank, der Arbeitgeber hält seine Konten ausschließlich bei der Piräus Bank. Der private Arbeitgeber hat alle seine Angestellten verpflichtet, bei der Piräus Bank Konten zu eröffnen. So hält er seinen eigenen Verwaltungsaufwand und die Kontogebühren bei den Gehaltsüberweisungen auf einem Minimum. Er ist nicht bereit, für die Dame eine Ausnahme zu machen.

Der staatliche Versicherungsträger verweist hingegen darauf, dass er für eine Änderung des Kontos der Rentenempfängerin mindestens sechs bis zwölf Monate Bearbeitungszeit benötigt. Als Grund für dieses erschreckende Eingeständnis der Unfähigkeit wird – wie wäre es anders zu erwarten – die dafür erforderliche Bürokratie samt des Personalmangels angegeben. Schließlich bleibt im Fall der Dame als einzige für ihr Anliegen hilfreiche Person nur die Bankangestellte, die sich Monat für Monat bemüht, die Pfändung des Lohns auf dem Konto der Piräus Bank so schnell wie möglich rückgängig zu machen.

Dienstschluss - keine Bedienung mehr am Bankschalter…

Die Bankangestellte bemüht sich, muss aber zukünftig für ihren Einsatz mit Kritik von den anderen Kunden rechnen. Denn, da -wie eingangs erwähnt- keine Überstunden gezahlt werden, haben die Gewerkschaften der Banken beschlossen, alle – auch die im Haus befindlichen – Kunden nach Kassenschluss um Punkt 14:30 Uhr nicht mehr zu bedienen.

Diese in Athen bereits praktizierte Methode soll auf das gesamte Land ausgeweitet werden, weil sich die hoffnungslos mit Kunden überfüllten Banken weigern, neues Personal einzustellen. Wartezeiten von mehr als einer Stunde sind in griechischen Banken eher die Regel als die Ausnahme.

Leidtragende dieser Praxis sind vor allem ältere oder bedürftige Kunden, denen es nicht möglich ist, ihre Bankgeschäfte per Internet oder am Automaten zu erledigen. Dazu gesellen sich auch die Auslandsgriechen, die für ihren eventuellen Besitz im Heimatland die Steuern zahlen müssen, aber nicht Internetbanking-Kunde bei griechischen Banken sind.

Es ist den griechischen Finanzbehörden bis heute nicht möglich, Überweisungen aus dem Ausland - oder wie für die Einheimischen möglich, die Zahlung per ausländischer Kreditkarte zu akzeptieren. Sie müssen also für ihre Steuerzahlungen einen Dritten zum Bankbesuch bewegen. Denn es ist weiterhin nicht möglich, mit einer nicht auf den Steuerpflichtigen ausgestellten Kreditkarte oder einem zu einer dritten Person gehörenden, griechischen Bankkonto die Steuern zu zahlen.

Vielleicht wird diese Reform bei dem mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kommenden, vierten Kreditpaket zur Rettung der griechischen Staatsfinanzen auf Druck der Kreditgeber endlich in Angriff genommen.

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